Celestino Arce Lavin / Imago

Dank seiner gesteigerten militärischen Schlagkraft und mithilfe der Türkei hat es Aserbaidschan geschafft, weite Gebiete von Nagorni Karabach zurückzuerobern und Armenien eine verheerende Niederlage beizubringen. Völkerrechtlich gesehen ist die Aktion illegitim.

Günther Bächler 15.11.2020

Der Krieg um Nagorni Karabach nahm am Wochenende vom 7./8. November eine dramatische Wende. Mit der Einnahme der zweitgrössten Stadt, Schuscha, durch aserbaidschanische Truppen musste die armenische Führung die Aussichtslosigkeit der armenisch-karabachischen Verteidigung eingestehen. Aus der weitgehend zerstörten Hauptstadt Stepanakert wurden die letzten Zivilisten evakuiert, bevor es am 9. November zur Unterzeichnung eines trilateralen Neunpunkteplans zum sofortigen Stopp aller Kampfhandlungen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland als Vermittler kam.

Aserbaidschan befindet sich im Siegestaumel, während Armenien in eine tiefe Existenzkrise gestürzt ist. In unzähligen Interviews begründet der aserbaidschanische Präsident Alijew die Rückeroberung Karabachs und der angrenzenden Gebiete mit dem Recht auf territoriale Integrität. Dieses sei auch in den Uno-Resolutionen von 1993 festgestellt worden.

Damit das Schweigen der internationalen Gemeinschaft zu diesem Krieg nicht allzu unüberhörbar wird, sind einige Klarstellungen notwendig, die hoffentlich zu entsprechenden diplomatischen und rechtlichen Konsequenzen führen werden:

1. Der Anspruch Aserbaidschans auf territoriale Souveränität hebelt das im Völkerrecht hoch angesiedelte Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht aus. Darauf kann sich das armenische Volk, welchem bereits 1924 von der damaligen Sowjetunion das autonome Gebiet Nagorni Karabach zugesprochen wurde, berufen (mit 94 Prozent Anteil an der lokalen Bevölkerung). Der Anspruch der Selbstbestimmung leitet sich zudem aus der Erfahrung der Diskriminierung und Unterdrückung der Bevölkerung unter der kommunistischen Herrschaft ab, woraus sich der starke Wille und wohl auch das Recht auf Unabhängigkeit Karabachs nach dem Ende der Sowjetunion ableiten lassen.

Hinzu kommt, dass Aserbaidschan im dreiseitigen Vertrag von Bischkek vom 11. Mai 1994 Nagorni Karabach als Vertragspartner anerkannt hat. Im April 2016, als Aserbaidschan seine Absicht, Karabach zurückzuerobern, mit militärischen Angriffen deutlich gemacht hat, wurde der Vertrag erneut bekräftigt. Man muss also davon ausgehen, dass er auch am 27. September 2020 – am Tag der Kriegseröffnung durch Baku – noch Gültigkeit besessen hat.

2. Nagorni Karabach verfügt – obwohl international nicht anerkannt – über sämtliche Kriterien eines De-facto-Staates. Daraus leiten sich Rechte und Pflichten (gewählte und funktionsfähige Institutionen, Schutz der Bevölkerung usw.) ab, aus welchen sich eine zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität ableiten lässt. Aufgrund dessen ist die «Republik Arzach» gegen Angriffe von aussen durch das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot geschützt (Art. 2, Uno-Charta) und zur Selbstverteidigung befugt (Art. 51). Dazu haben sich namhafte Völkerrechtler geäussert (prominent Otto Luchterhandt von der Universität Hamburg).

3. Die massiven Militäraktionen Aserbaidschans entlang der gesamten Waffenstillstandslinie und teilweise auch der internationalen Grenze mit Armenien haben sowohl das internationale Gewaltverbot als auch im Besonderen den Waffenstillstandsvertrag von 1994 gebrochen. Und das im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass es seit 1994 ein «Minsk-Format» mit drei Vorsitzstaaten (Russland, USA, Frankreich) gibt, um die Ansprüche beider Seiten friedlich zu regeln.

Weder Aserbaidschan noch Armenien haben sich trotz massiven und jahrelangen diplomatischen Bemühungen dazu bereit erklärt, die «Madrider Prinzipien» des OSZE-Minister-Treffens 2007 ernsthaft umzusetzen, welche den genauen Weg zu einer langfristigen friedlichen Lösung aufzeigen. Das bisherige Scheitern der Verhandlungen rechtfertigt in keiner Weise eine gezielte und offenbar lange geplante militärische Umgehung des Gewaltverbots. Die Rückgabe der besetzten aserbaidschanischen Provinzen um Nagorni Karabach herum wäre somit durch politische Verhandlungen durchaus möglich gewesen.

4. Die Türkei macht sich mit der massgeblichen Unterstützung der völkerrechtswidrigen Gewalthandlungen sowie der Verlegung regulärer Truppenverbände nach Aserbaidschan sowie deren Einsatz gegen Nagorni Karabach ebenfalls strafbar. Die Türkei hat durch ihre Kriegsrhetorik, ihre militärischen Aktivitäten und das illegale Ein­schleusen von Söldnern aus Syrien wesentlich zur Eskalation des Kriegs und damit zu Tod und Vertreibung vieler Zivilisten beigetragen. Vor dem Hintergrund des Völkermords am armenischen Volk von 1915/16 würde man gerade beim armenischen Nachbarn Türkei eine besondere politische Zurückhaltung erwarten bzw. eine moralische und rechtliche Verpflichtung, zum Frieden in der Region beizutragen, ableiten.

5. Im Zuge des intensiv geführten Angriffskriegs auf der einen und des Verteidigungskrieges auf der anderen Seite kam es offensichtlich zu zahlreichen und massiven Verletzungen des humanitären Kriegsvölkerrechts durch beide Seiten. Insbesondere die gezielten Angriffe auf zivile Ziele, vermutlich unter Einsatz von verbotenen Waffensystemen, stellen vermutlich in hohem Masse Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen dar.

6. Die Stationierung von russischen Truppen zur Friedenserhaltung und Stabilisierung, welche aufgrund des trilateralen Vertrags bereits in vollem Gange ist, beruht auf keinem international vereinbarten Mandat; weder vonseiten des Uno-Sicherheitsrates noch der OSZE. Das eigenmächtige Vorgehen von Präsident Putin hat das «Minsk-Format», welches bisher als sakrosankt galt, ad absurdum geführt. Wie in anderen Regionen des Südkaukasus wird damit der Konflikt auf dem gegenwärtigen Stand eingefroren. Eine nachhaltige Friedenslösung dürfte anders aussehen, zumal noch unklar ist, was Aserbaidschan mit dem bisher nicht eroberten Kerngebiet von Nagorni Karabach, das gemäss Vertrag mit Armenien verbunden bleiben soll, vorhat.

Ja, man hat es kommen sehen. Und wieder einmal haben wir es nicht geschafft, die Menschen zu schützen. Übrig bleibt einmal mehr ein blutdurchtränktes und menschenleeres Stück «Territorium». Wer zieht die Verantwortlichen zur Rechenschaft?

Günther Bächler war von 2016 bis 2018 Spezialgesandter im Südkaukasus für den OSZE-Vorsitz.

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