Endlich gibt es auch deutschsprachige Literatur von armenischer Seite (!) zur Aufarbeitung von “Aghet” – dem Völkermord, der großartig geschrieben und tief und (selbst-)kritisch in seinem Blick ist. Der Roman kommt leicht und spannend zu lesen daher wie ein sehr gut komponierter Fantasy-Roman. Aber voll ernster Realität. Und auch voll Witz. Die Geschichte bewegt sich zwischen der “realen” Welt einer modernen deutschen Armenierin, die auf der Suche nach ihren Wurzeln mehrere Reisen nach Armenien unternimmt – und einer “Fantasy”-Welt auf dem Grund des sagenumwobenen armenischen Sewan-Sees, die nicht weniger real ist: Die Protagonistin Ana trifft dort ihre Ahnen, kann mit ihnen sprechen und schafft es, in diesen tiefen Gesprächen das dunkle Grauen des Völkermords in großen (Traum-)Bildern aufzuarbeiten. All das kommt in starken und vielfältigen Bildern herüber – und ist sehr kurzweilig geschrieben. Man “lebt” ihre große Ambivalenz mit, ihr Schwanken zwischen dem “Werwolf”, welcher abgedrängt ins Geleugnete, Verhärtete und Unbewusste wie ein ewiger dunkler Wiedergänger immerzu Hass, Rache und Gewalt heraufbeschwört – und der “Taube”, die trauert und sich nach Liebe und Frieden, Vergebung und Erlösung sehnt. Auch moderne Verbündete dieser Sehnsucht – etwa der ermordete armenische Journalist Hrant Dink * oder der türkisch-deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı – begegnen ihr in diesem See der Erinnerung und werden Teil ihres Ringens um sich selbst. In ihrem Tauchgang zu den Anfängen sucht die Autorin statt nach Schuld nach Liebe. Scharfsinnig und mit unbeirrbarer Konsequenz hinterfragt sie dabei nicht nur die christlichen Wurzeln der armenischen Kultur sondern auch die vorchristlichen.  Die Protagonistin kommt zu einem erstaunlichen Entschluss…

Das Buch ist im besten Sinne ein Stein des Anstoßes. Aber auf eine so liebe-volle Weise, die uns allen sehr gut und not tut. Ein Buch zum neu Nachdenken und neu Nachfühlen über „Aghet“ – nicht nur für Menschen mit armenischen Wurzeln.  Es wird irritierende und positive Impulse für diejenigen auf allen Seiten geben, deren „Erinnerung“ nach so langer Zeit verstellt und verfestigt ist von  Fühllosigkeit, von vorgefertigten Gedanken  und von verordneten Ritualen. Hier ist Erinnern mit neuen, klaren Wassern gewaschen – ein frischer, warmer Strom aus der Tiefe des Menschlichen öffnet Wege aus Erstarrung und finsterer „Selbstverständlichkeit“.

* Hrant Dink sah es als seine Lebensaufgabe – und setzte sein Leben dafür ein -, als Armenier neue Bewegung in die Erinnerung aller zu bringen und die „Lager“ sowie Feindbilder zu überwinden. In seiner armenisch-türkischen Zeitung „Agos“ schrieb er dazu u.a.: „Es war ein Fehler der Armenier, ihr Selbstbild und ihre Identität so lange an die Anerkennung des Völkermords durch Franzosen, Deutsche oder Amerikaner und vor allem durch die Türken zu binden. Ich stelle der armenischen Diaspora immer die gleiche Frage: `Was ist wichtiger, die Demokratisierung der Türkei oder ihre Anerkennung des Völkermords?`Brauchen wir Parlamentsbeschlüsse aus den verschiedenen Ecken der Welt? Wird das, was wir wissen, wirklicher, wenn andere es anerkennen?  Stärkt es unseren inneren Frieden, wenn unsere Wirklichkeit Spielball ihrer Ungnade oder Gnade ist? Kann ihr verrostetes Gewissen denn Trost für unsere Herzen sein? Lasst uns mit diesem Spiel aufhören.“

von Ulrich Klan – Autor,  Pädagoge, Komponist – u.a. “Wie eine Taube”, Requiem für Hrant Dink – , Mitbegründer und Vorsitzender der Armin T. Wegner Gesellschaft e.V. www.armin-t-wegner.de

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert