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Der Deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2016 den Resolutionsentwurf zum Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 verabschiedet. Viele haben diese Entscheidung begrüßt. Das Wichtigste an ihr dürfte indes sein, dass sich die Volksvertretung gegen die Regierung behauptet hat. Denn die ist eher ängstlich um Appeasement beim alten Waffenbruder bemüht.

Der Deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2016 mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung den Resolutionsentwurf „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“ verabschiedet. Viele haben danach die Entscheidung des Parlamentes begrüßt. Das Wichtigste an ihr beziehungsweise ihr bleibender Wert dürfte sein, dass sich die Volksvertretung gegen die Regierung behauptet hat.

Warum haben nur Männer geredet?

Die Debatte vor der Abstimmung hat eine Stunde gedauert. Geredet haben nur Männer, die Frauen durften zuhören und schweigen. Das war keineswegs nur ein Formfehler. Zahllose Frauen sind 1915/16 und später vergewaltigt, misshandelt, auf grausame Weise in den Tod getrieben und zwangsislamisiert worden. Auch bei der Paraphrasierung des Genozids durch „Massaker“ und „Vertreibungen“ bleiben regelmäßig die geschlechtsspezifischen Verbrechen an Armenierinnen ungenannt und werden auch von den meisten männlichen armenischen Wortführern nicht thematisiert: sexualisierte Folter und Gewalt, Versklavung, Zwangs- und Hungerprostitution, unter anderem mit dem Ergebnis massenhafter Durchseuchung der Überlebenden mit Geschlechtskrankheiten.

Warum kam zum Beispiel die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach nicht zu Wort? Sie war die Einzige, die Tacheles geredet hat – und dafür von Merkel abgekanzelt worden ist. Im letzten Jahr hatte Frau Steinbach den Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der aus Rücksicht auf die Türkei damals das Wort „Völkermord“ vermeiden wollte, auf eine Ebene mit Kaiser Wilhelm II. gestellt. Und warum wurde die Genozidforscherin Prof. h.c. Dr. Tessa Hofmann nicht gebeten? Sie hat seit Ende der 1970er Jahre mehr getan zur Aufklärung über den Völkermord an den christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich und unter Mustafa Kemal „Atatürk“ als alle Bundesregierungen zusammen. Die Schlachtschiffe aus Kaisers Zeiten, Symbole der Waffenbrüderschaft zwischen Deutschem Reich und Hoher Pforte – sind sie wirklich noch in den Köpfen der politischen Entscheidungsträger der heutigen Bundesrepublik?

Zu Recht vertritt die „Arbeitsgruppe Anerkennung (AGA) e.V.“, dass der Bundestag sich hinter der Meinung Dritter verschanzt habe, „statt eine eigene Bewertung“ über die „an den osmanischen Christen/innen begangenen Verbrechen vorzunehmen.“ Auch lehnt die AGA die vom Bundestag vertretene „Opferhierarchie“ ab, zumal die zwischen 1912 und 1922 ermordeten griechisch-orthodoxen Christen, allein hier sind über eine Million Tote zu beklagen, nicht als eigene Gruppe, sondern nur unter „ferner liefen“ genannt sind. Geradezu demonstrativ blieben die Plätze der Bundeskanzlerin, des Vizekanzlers und des Außenmisters während der Debatte leer. Angela Merkel hatte Wichtigeres zu tun, war auf dem MINT-Gipfel mit der „digitalen Spaltung“ der Gesellschaft befasst. Der Vizekanzler redete sich mit einem wichtigen Termin bei der Bauindustrie heraus. Frank-Walter Steinmeier traf derweil in Buenos Aires Opfer der Militärdiktatur; sie liegen ihm offenbar mehr am Herzen als jene Opfer, für die Deutschland mitverantwortlich ist.

Das Verhalten der Regierungsspitze war einer Völkermord-Debatte nicht würdig – eine politische Unreife, die genau an das erinnert, was Armenier seit langem, inzwischen aber auch viele Deutsche beklagen. Statt sich der Verantwortung zu stellen, schlägt man sich in die Büsche und handelt damit nicht viel besser als frühere deutsche Regierungen: feige und herzlos. Ähnlich sieht es Daniyel Demir, der Bundesvorsitzende der Aramäer in Deutschland, der von der Bundesregierung nun fordert, „sich auf die Seite der Opfer zu stellen – und nicht auf die Seite der türkischen Regierung, die sich hartnäckig weigert, Verantwortung für ihre Geschichte zu übernehmen.“ Die vielen Deutschen, die nach einer jüngsten Umfrage zu 74 Prozent dafür sind, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, haben offenbar mehr aus der Geschichte gelernt als die Regierenden. Wenn deren Umgang mit deutscher Schuld Schule macht – Pegida und AfD lassen grüßen –, können wir uns in diesem Lande noch auf einiges gefasst machen.

Deutsche Mitverantwortung

Noch in einem anderen Punkt kann sich der Bundestag nicht aus der Verantwortung stehlen. Kein Abgeordneter hat es als seine Pflicht betrachtet, sieht man einmal von Gregor Gysis kurzem Hinweis ab, die Regierungsspitze zeige sich „nicht gerade mutig“, das beschämende und skandalöse Fernbleiben deutlich beim Namen zu nennen und anzuprangern. Eine solche Fehlleistung wirkt vor dem Hintergrund des Versprechens, ein Menschheitsverbrechen, an dem die deutsche Politik nicht unbeteiligt gewesen ist, anzuerkennen, nicht gerade ermutigend. Hätte auch nur eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter das Fehlen der deutschen Regierungsspitze bei der Debatte mit wenigen, aber klaren Worten verurteilt und sich Gehör verschafft, so wäre ihr/ihm für ihre/seine Courage zu danken. Aber man schwieg offenbar lieber, als sich unbeliebt zu machen.

Deutschland hätte – nicht zuletzt weil es, gestützt auf seinen Eroberungs- und Siegeswillen, aus Bündnistreue zum Osmanischen Reich schlimmste Verbrechen hinnahm – allen Grund gehabt, sich bereits in den Jahren nach 1918 von den Armeniermorden zu distanzieren und zuzugeben, dass es sie nicht nur aus politischen Gründen zuließ, sondern dass das kaiserliche Regime spätestens von dem Moment an eine direkte und unmittelbare Mitschuld traf, als deutsche offizielle Organe sich ausdrücklich an der Entfesselung des „Heiligen Krieges“ der Moslems mit beteiligten. „Heiliger Krieg“ ist im Islam gleichbedeutend mit der Niedermetzelung und Ausrottung der Christen, und allzu oft sind die blutigen Folgen zu beklagen. Aber davon hat im Bundestag kein Abgeordneter gesprochen.

Wer sich so wie die Kanzlerin und ihr Außenminister, beide seit 2015 die treibenden Kräfte gegen die legislative Verwendung des Begriffes Völkermord, aus dem Staub macht, offenbart ein Verhalten, das sich spätestens seit 1914 tief in den Charakter deutscher Politiker eingefressen hat und keineswegs überwunden ist. Gemeint ist ein hoher Grad politischer Infantilität, der immer dann sichtbar wird, wenn es darum geht, eigene Schuld zu bekennen und die Folgen für verbrecherische Taten auf sich zu nehmen. Wie nach 1918, so trugen auch nach 1945 beziehungsweise 1949 viele Verantwortliche in Politik, Wirtschaft, Militär, Verwaltung und Geistesleben eine Reuelosigkeit und Unbußfertigkeit zur Schau, die beispiellos sein dürfte. Ausnahmen von diesem stillverschweigenden Einverständnis der Mehrheit sind in pazifistischen und kirchlichen Kreisen, zum Beispiel beim Stuttgarter Schuldbekenntnis zu finden. Statt Einsicht zu zeigen, die Politik auf eine neue ethische Grundlage zu stellen oder einfach nur Gutes zu tun, machte man andere für Not und Elend verantwortlich, nur nicht sich selbst.

Wer versucht, die halbe Welt und mehr zu erobern, hat, wenn es schiefgegangen ist, für die Folgen gerade zu stehen. Alles andere ist politisch unreif und nicht erwachsen. Dazu zählt der Versuch, die eigenen Sünden beiseitezuschieben, sie zu bagatellisieren, zu verschweigen, anderen anzulasten, wegzulügen oder sich gar als Opferlamm darzustellen. Hierzu gehört auch, dass die überwältigende Mehrheit deutscher Medien von der „Armenienresolution“ spricht statt von einer Resolution zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern beziehungsweise an den osmanischen Christen.

Wie weit geht das Mitgefühl?

Mit welchen Fragezeichen man in Deutschland von einer wirklich entwickelten politischen Kultur sprechen kann, macht auch der Umstand deutlich, dass kein Abgeordneter, keiner der Redner daran gedacht hat, sich bei den zahlreich anwesenden Nachfahren der Opfer zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten. Offenbar geht das Mitgefühl nicht weit genug, um auf einen solchen Gedanken zu kommen.

In Dinant, einer belgischen Stadt, an den Ufern der Maas gelegen, haben deutsche Truppen 1914 – wie auch in anderen Orten der Umgegend – bis dahin unvorstellbare Grausamkeiten begangen. Über 650 Unschuldige aller Altersstufen sind hier einem Massaker zum Opfer gefallen. In ganz Belgien haben deutsche Soldaten im August und September 1914 über 6.000 Menschen, obwohl man wusste, dass sie unschuldig waren, zur „Warnung“ für andere hingerichtet, Städte und Dörfer zur „Abschreckung“ oder Sühne niedergebrannt, Frauen und Kinder als Geiseln erschossen und Kirchen geschändet.

Fragt man nach der Verantwortlichkeit für den Genozid an den Armeniern, wird man nicht außer achtlassen dürfen, dass das Beispiel Belgien – wie der Schweizer Historiker Samuel Zurlinden schreibt – „auf die Türken anfeuernd und aufmunternd wirken musste“. Was in Armenien geschah, so Zurlinden weiter, „ist nichts anderes als preußischer Militarismus, ins Türkische übersetzt. Zum Präventivkrieg der Deutschen und den Präventivstrafgerichten in Belgien kam das Präventivmassacre in Armenien, denn auch dieses Blutbad sollte ja ausgesprochenermaßen eine ‚Vorbeugungsmaßregel‘ sein, daneben allerdings auch Racheakt.“ Auf solche Darlegungen über die Verheerung Europas durch den preußisch-deutschen Militarismus, der durch seinen „Griff nach der Weltmacht“ es den Jungtürken ermöglichte, die Mächte des religiösen Fanatismus und des Militarismus zu entfesseln und sich auf die kampfunfähige Masse der armenischen Zivilbevölkerung zu stürzen, um sie zu vernichten, wartete man vergeblich. Es handelte sich nicht nur um die größte Christenverfolgung der Weltgeschichte, es war auch ein Verrat der deutschen zivilen und militärischen Reichsführung sowie der deutschen Kirchen an den christlichen Brüdern, den Armeniern, Aramäern und anderen christlichen Minderheiten.

Es hätte kein Kniefall sein müssen

Am 6. Mai 2001, 87 Jahre nach den grausamen Ereignissen, denen ein Drittel der Einwohner zum Opfer fielen, hielt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Walter Kolbow, eine bemerkenswerte Rede. „Nun könnte man sagen“, führte er aus, „daß dies alles doch schon so lange zurückliege. Das mag zwar sein. Aber es ist bis heute nicht vergeben. Und zwar sicherlich auch deshalb nicht, weil niemand Sie bisher um Vergebung gebeten hat. Das ist der Grund, warum ich heute hier bin. Ich möchte Sie alle bitten, das von Deutschen in Ihrem Lande damals begangene Unrecht zu vergeben … Krieg, Gewalt und Verherrlichung von Gewalt können die Menschen verrohen und Taten hervorbringen, die unter moralischen und ethischen Kriterien nur verabscheut werden können … Eine Politik, die sich den Frieden der Völker und die Wahrung der Menschenrechte zum Ziel gesetzt hat, muß auf Moral, Ethik und Gerechtigkeit aufbauen. Gerechtigkeit schafft Frieden. Das setzt aber voraus, geschehenes Unrecht beim Namen zu nennen, es nicht zu verleugnen und um Vergebung zu bitten. Dieses tue ich hier und heute aus tiefer innerer Überzeugung. – Vergeben heißt nicht vergessen. Die Erinnerung an Schuld hilft, die Gegenwart und die Zukunft in Verantwortung für den Frieden zu gestalten.“

Solche oder ähnliche Worte waren in der Bundestagsdebatte vom 2. Juni 2016 nicht zu hören. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, den anwesenden Erzbischof der Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland Karekin Bekdjian anzusprechen, auf ihn zuzugehen und ihn um Vergebung zu bitten. Es sei an dieser Stelle an den weltweit Aufsehen erregenden Kniefall von Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal des Warschauer Ghettos erinnert – eine Demutsgeste, die man in anderer Weise, aber mit ähnlicher Wirkung hätte einnehmen können, ja müssen. Dass es nicht geschehen ist, lässt sich nicht wiedergutmachen. Und so fällt auf die Debatte ein schwerer Makel, der nicht mehr wegzuwischen, allenfalls abzumildern ist, wenn das Parlament mit einem besonderen Akt nachholt, was es versäumt hat.

Abgeordnete, aber auch andere Personen, die in diesem Sinne etwas tun wollen, seien auf die Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V. auf dem Ev. Luisenkirchhof III in Berlin-Charlottenburg hingewiesen. Diese Gedenkstätte sollte als öffentliches Denkmal anerkannt werden. www.genozid-gedenkstaette.de

Lesen Sie weitere Meinungen aus dieser Debatte von: Martin Valdés-Stauber, Martin Schulz, Leon Kohl.

von Helmut Donat 08.06.2016

http://www.theeuropean.de/helmut-donat/11028-nach-der-bundstagsresolution-zu-armenien

 

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