Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, bietet zwei Wege in die Vergangenheit an. © Andreas Labes

 

Armenische Geschichte

vonCornelia Geißler

Schriftstellerin Katerina Poladjan erkundet in ihrem neuen Roman „Hier sind Löwen“ vielfältig und lebendig armenische Geschichte.

Die Buchrestauratorin ist zum ersten Mal in Jerewan, sie kommt aus Deutschland. Mit den Leuten spricht sie Englisch und vor allem Russisch, die Sprache ihrer in Russland geborenen Mutter. Doch gleich nach der Ankunft schon, als sich der Fahrer bei ihr vorgestellt hatte (Petrosian) und ihr eine Straße nannte (Abovyan), stellt sie fest: „Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft.“

Helen Mazavian heißt sie, die auch als Erzählerin im Buch fungiert. Eigentlich ist sie hier, um ihre Fertigkeiten zu verbessern, andere Techniken im Umgang mit alten Handschriften zu lernen. Die Frage nach ihren Wurzeln wehrt sie zunächst ab „Ich bin kein Baum“, und doch wird ihr Aufenthalt in Armenien sie in ihre Familiengeschichte führen.

Katerina Poladjan: „Hier sind Löwen“. Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019. 286 S., 22 Euro. © S. Fischer

 

 

Katerina Poladjan erzählt von dieser Spurensuche allerdings auf andere Weise, als man es nach vielen (guten, interessanten) Büchern zu diesem Komplex erwarten könnte. Die Frage der „Herkunft“ bezeichnet ja nicht nur einen Roman von Saša Stanišic, sie ist das Thema unserer Zeit, behandelt etwa von Jagoda Marinic (Kroatien) und Katja Petrowskaja (Russland, Ukraine), Abbas Khider (Irak) und Maxim Biller (Tschechien). Sie ergründen schreibend, was ihre Eltern oder Großeltern oder auch sie selbst von einem Zuhause zu einem anderen trieb – oft lange vor den Fluchtbewegungen der Gegenwart. Es ist das Andere, das zu einer genaueren Wahrnehmung reizt.

Der Roman „Hier gibt es Löwen“ steigt auf zwei Wegen in die Vergangenheit. Da ist der direkte, sozusagen dokumentarische, wenn Helen die Menschen zu einem Foto sucht, das ihre Mutter ihr mitgegeben hat. Könnte es noch jemanden geben, der ihren Großvater gekannt hat? Sie recherchiert zaghaft und hinterfragt ihre Suche zugleich: Was bringt es ihr, weit entfernten Verwandten zu begegnen?

Der andere Weg führt sie über die Arbeit in die Geschichte des armenischen Volkes. Als Restauratorin betrachtet Helen eingehend die Gebrauchs- und Zeitspuren der Bibel, die sie über Wochen und Monate täglich zur Hand nimmt. Mal sind es die Buchstaben, die sie genauer ansieht, mal Bilder, hinzugekritzelte Worte, herausgerissene Stückchen. Sie benutzt Knoblauchsaft als Leim, mischt „frisches Eiweiß mit schwarzem Pigment aus veraschten Ameiseneiern“. Dabei werden momentweise die Buchstaben und Bilder unter ihren Händen lebendig. Sie bessert „mit einem Marderhaarpinsel den Brei aus Speichel und Lehm aus, den Jesus dem Blindgeborenen auf die Augen legte“. Dann sieht sie: „Jesus spuckte auf den Boden, weichte mit seinem Speichel Lehm auf, rieb dem Mann den Brei auf die Augen und schickte ihn dann zum Teich von Siloah, damit er sich reinigte.“

Nach und nach entsteht parallel zur Romanhandlung im Jerewan der Gegenwart eine andere Erzählung. Sie beginnt wie ein Märchen mit Tieren und Fabelwesen, wo auch der Löwe seinen Platz hat, sie entwickelt sich zu einer Geschichte über ein Mädchen und dessen kleinen Bruder, die vor den türkischen Häschern fliehen. Es sind die Besitzer des Buches, die unter Helens Händen auf wundersame Weise wieder zu leben beginnen – auch wenn das nie ausdrücklich gesagt wird. Es sind Bilder, die dem Leser aus dem Hauptstrang bekannt vorkommen, unter die Lupe genommen, mit Pinsel und Messerchen behandelt im Archivraum.

Helen wird heimisch in der fremden Stadt. Sie trifft sich immer wieder mit einem Mann, dem sie sich bald so nahe fühlt, dass es ihr unheimlich wird. Sie will doch nur Gast sein, keine Wurzeln schlagen. Dass sie selbst Leute nach Herkunft sortiert, merkt sie erst bei einem Konflikt mit ihrer aus Syrien gekommenen Freundin.

In einem Anfall von Neugier beginnt sie, Armenisch zu lernen, indem sie die Gebrauchsanweisung für die Mikrowelle abschreibt und die Worte mit der englischen und russischen Übersetzung vergleicht. Als Helen sich aufmacht in die Gegend, wo ihre Familie herstammen könnte, fragt sie die Leute, ob es noch alte Bibeln gibt. So wird das Verbrechen an den Armeniern fast greifbar.

Und es ist eine geradezu beglückende Linie, die sie innerhalb der Literatur zieht, wenn Poladjan ihre Heldin im türkischen Kars genau in dem Hotel übernachten lässt, wo Orhan Pamuk seinen Roman „Schnee“ schrieb – auch ein Werk über die Unterdrückung einer Kultur.

„Hier sind Löwen“ nimmt mit auf eine Reise und weckt Empfindungen, weil Poladjan sensibel erzählt. Sie schärft auf subtile Weise das Bewusstsein für Verbrechen. Das Buch gibt seinen Zauber nach und nach frei. Es ist ein Schatzkästlein, das mehr enthält, als man sehen kann.

https://www.fr.de/kultur/literatur/katerina-poladjan-hier-sind-loewen-sprache-mikrowelle-12902145.html

 

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