(Foto von: Library of Congress)Im November 1914 tritt das krisengeschwächte Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg ein. Als sich ein halbes Jahr später eine kleine Gruppe von Armeniern gegen die türkische Herrschaft erhebt, antwortet die Regierung mit beispielloser Gewalt: Ihre Schergen treiben die Angehörigen der christlichen Minderheit in Todesmärschen Richtung Süden. Dabei sterben mehr als eine Million Menschen – ein Völkermord, den die Türkei bis heute leugnet

Text von Frank Otto und Tobias Völker

Der Genozid an den Armeniern ist der erste millionenfache Mord des 20. Jahrhunderts. Ein Verbrechen von ungeheuerlichen Dimensionen – befohlen von der Regierung des Osmanischen Reiches. Es beginnt mehr als 1000 Kilometer von den Hauptsiedlungsgebieten der Armenier entfernt: in Istanbul. In der Nacht des 24. April 1915 verhaften Polizisten mehr als 200 Angehörige der armenischen Hauptstadt-Elite – Abgeordnete, Journalisten, Lehrer, Ärzte, Apotheker, Kaufleute und Bankiers. Das Osmanische Reich ist ein halbes Jahr zuvor in den Ersten Weltkrieg eingetreten; angeblich kollaborieren die Festgenommenen mit dem Feind. Auch in vielen Provinzstädten werden armenische Notabeln ins Gefängnis geworfen, gefoltert und zur Abschreckung öffentlich hingerichtet. Doch das ist nur der Prolog der eigentlichen Mordaktion.
Des Versuchs, ein ganzes Volk auszulöschen.

Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein haben Armenier vielerorts eine gehobene Stellung im Osmanischen Reich errungen. Zwar bleiben den Angehörigen dieses christlichen Volkes – wie allen Nichtmuslimen – über Jahrhunderte Karrieren im Staatsdienst verschlossen. Doch bringen es zahlreiche Armenier zu beachtlichem Wohlstand. Sowohl im Hochland Ostanatoliens als auch in der Kapitale Istanbul kontrollieren sie wichtige Teile der Ökonomie: die Seidenindustrie und Textilproduktion, die moderne Landwirtschaft, die Schiffbau- und Tabakindustrie. Sie etablieren daneben auch das moderne Theater und die Oper im Reich und verfassen die ersten osmanischen Romane. Neun Zeitungen erscheinen in Istanbul auf Armenisch, nur 13 auf Türkisch. (Die Metropole zählt 1914 mehr als 900.000 Einwohner, von denen etwa zehn Prozent Armenier sind.) Und seit dem Reformdekret von 1856, das allen osmanischen Bürgern unabhängig von der Religion Zugang zu hohen Staatsämtern ermöglicht, finden sich auch dort immer mehr Armenier. Doch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beginnt sich das Verhältnis zwischen Armeniern und osmanischer Staatsführung entscheidend zu verschlechtern.

Denn als Sultan Abdülhamid II. 1877 Krieg gegen Russland führt, bitten die armenischen Führer den Zaren darum, ihre Gebiete in Anatolien dauerhaft zu besetzen oder ihnen eine autonome Verwaltung zu verschaffen, doch ohne Erfolg. Im Friedensvertrag nach der katastrophalen Niederlage allerdings muss die Hohe Pforte, die osmanische Regierung, im folgenden Jahr zugestehen, die christliche Minderheit besonders zu schützen und Reformen zu ihren Gunsten ins Leben zu rufen – die von Europäern überwacht werden sollen.

Eine schwere Demütigung des Sultans, dessen Vielvölkerreich immer schneller zerfällt: Bereits 1875 hat der Großwesir als Regierungschef den Staatsbankrott erklärt, die Verwaltung der öffentlichen Schulden wird daraufhin unter europäische Aufsicht gestellt. Im folgenden Jahr erheben sich Serben, Montenegriner und Bulgaren gegen die türkische Herrschaft. Und mit dem Berliner Vertrag verlieren die Osmanen 1878 weite Teile ihrer Besitzungen auf dem Balkan.

Abdülhamid II., seit 1876 auf dem Thron, sieht in den Aufständen seiner christlichen Untertanen und dem Eingreifen der Europäer eine Verschwörung gegen sein Reich und den Islam. Als dann armenische Revolutionäre, die für einen eigenen Staat kämpfen, Terroranschläge gegen osmanische Beamte verüben und Freischärler-Truppen aufstellen, schlägt der Sultan hart zu. Kurdische Reitermilizen unterdrücken 1894 brutal die Aufstände, zerstören Dörfer der Rebellen und ermorden zahlreiche Zivilisten. In Anatolien sowie in der Hauptstadt verüben Muslime in den folgenden Jahren Massaker an den Armeniern – möglicherweise auf direkten Befehl des Monarchen, wie manche Historiker vermuten. Mindestens 80.000 Menschen sterben.

Nach wenigen Jahren einer gespannten Ruhe verschärft sich die Konfrontation zwischen Minderheit und Staatsleitung dramatisch, als sich 1913 die Führer des “Komitees für Einheit und Fortschritt” (KEF), Enver Pascha, Cemal Pascha und Talat Bey, an die Regierung putschen.

Das Komitee ist ein besonders nationalistischer Teil der jungtürkischen Bewegung, die 1909 Abdülhamid II. vom Thron gestoßen und durch dessen altersschwachen Bruder Mehmed V. ersetzt hat; seitdem ist der Sultan nur mehr Repräsentationsfigur. Die neuen Machthaber, ein Triumvirat aus zwei hohen Offizieren und einem ehemaligen Telegraphenbeamten, herrschen fortan mit diktatorischer Gewalt.

Sie wollen das zerbrechende osmanische Imperium um jeden Preis erhalten; alles Streben nach Autonomie ist für sie Verrat. Sie glauben an die Überlegenheit der türkischen Nation gegenüber anderen Völkern. Und sie wollen einen Staat schaffen, der rein türkisch-muslimisch ist – auch mit Gewalt.

Diese Ideologie wird umso kompromissloser propagiert, als im Vorjahr das Reich abermals eine schmähliche Niederlage erlitten und (bis auf kleine Reste) sämtliche Territorien auf dem Balkan verloren hat. Nach mehr als 500 Jahren ist damit die Herrschaft der Osmanen auf der Halbinsel beendet. Hunderttausende muslimische Flüchtlinge drängen nun nach Anatolien und besonders in die armenischen Gebiete.

Glaubensbrüder, für die neue Existenzgrundlagen geschaffen werden müssen – durch Enteignung und Vertreibung der Christen. Der Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns im November 1914 radikalisiert die türkischen Nationalisten noch weiter: Der Gouverneur der Provinz Diyarbakr, ein Mediziner, nennt die Armenier eine Menge “schädlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes befallen” hätten. Und fragt, ob es nicht die Pflicht eines Arztes sei, die Mikroben zu töten.

Diplomatische Rücksichten auf das westliche Ausland muss die Regierung im Krieg nicht mehr nehmen. Zudem liefert ihr das Geschehen an der Kaukasusfront einen Vorwand zum Schlag gegen die Armenier. Dort greift im tiefen Winter eine Armee unter Kriegsminister Enver die Russen an. Die Offensive wird zum Fiasko: Mehr als drei Viertel der türkischen Soldaten kommen in der Kälte um.

 

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