Harry Stürmer: »Kostspielige, skrupellose und durch und durch unmoralische Hetzbemühungen« Deutschlands im Osmanischen Reich (türkische und deutsche Soldaten vor der Munitionsfabrik der Firma Krupp in Konstantinopel im September 1915) Foto: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Vorabdruck. Der »Dschihad« des Kaisers – die wilhelminische Politik während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich

jungewelt.de, Von Harry Stürmer

Der »Heilige Krieg« diente bereits vor 100 Jahren vor allem der deutschen Außenpolitik als Instrument gegen die imperialistische Konkurrenz: das Vereinigte Königreich, Frankreich und Russland. Man wollte die von diesen Ländern kolonialisierten Regionen durch Aufhetzung islamistischer Gruppierungen destabilisieren, damit den Einfluss der Kolonialmächte dort schwächen, um schließlich selbst Bevölkerung und Boden auszuplündern.

Harry Stürmer ging als turkophiler Berichterstatter und Korrespondent der Kölnischen Zeitung im Frühjahr 1915 in die Hauptstadt des Osmanischen Reichs und geriet schon bald in kritische Distanz zur deutschen Politik vor Ort. Stürmer klagte in dem 1917 in Lausanne erschienenen Buch Deutschland an, mitverantwortlich am Völkermord an den Armeniern zu sein. Dabei war Stürmer kein Menschenfreund, sondern sprach von England, Frankreich und Russland als »gesitteten Kolonialregierungen«, die den unterdrückten Völkern Wohlstand für alle gebracht hätten.

Dieses Dokument hat der Donat Verlag aus Bremen anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Völkermords an der armenischen Bevölkerung am 24. April 1915 neu aufgelegt. jW bringt Passagen daraus. Einige sehr lange Sätze darin sind aufgelöst worden; Absatzeinteilung und Überschriften stammen von der Redaktion. (jW)

 

Es ist für einen Deutschen, der zwar nicht in alldeutscher »Weltpolitik« macht, dafür aber wirklich weltpolitisch denkt, besonders peinlich, sich mit den vielen Machenschaften unserer mit wahrhaftig allen, auch den allerniedrigsten Mitteln arbeitenden, dabei von Illusionen lebenden Regierung zu beschäftigen. Diese Machenschaften hatten den Zweck, den sogenannten Heiligen Krieg (arabisch »Dschihad«) zu entfesseln. Sie sind so gut wie ausnahmslos kläglich gescheitert. Ja nach all den kostspieligen, skrupellosen und durch und durch unmoralischen Hetzbemühungen gegen die europäische Zivilisation in den mohammedanischen Ländern ist der furchtbare Gegenschlag des Abfalls der Araber und der Gründung eines rein arabischen Kalifats unter englischer Führung erfolgt, womit allein schon England seinen Krieg gegen die mit Deutschland verbündete Türkei glänzend gewonnen hat (…).

Nicht besser vermag man die deutsche vollständige Unfähigkeit zu erfolgreicher Weltpolitik zu demonstrieren. Der »Heilige Krieg« wäre, falls geglückt, eines der großen Verbrechen gegen die menschliche Kultur gewesen, die (…) Deutschland (…) auf sein Gewissen nahm. Der erfolgreiche, auf alle Länder des Islam sich ausbreitende »Dschihad« hätte unendliche, mühsam erarbeitete Kulturwerte zerstört, und wäre gar nicht zu vergleichen gewesen mit der Verwendung seitens der Entente (gemeint ist die Triple Entente, das seit 1907 bestehende Bündnis zwischen Vereintem Königreich, Frankreich und Russland; jW) von farbigen Truppen in Europa, wogegen Deutschland soviel geschrien hat. Denn dort handelte es sich um eine allgemeine Entfesselung wilden Fanatismus gegen das segensreiche Werk gesitteter Kolonialregierungen (…).

Aber das Attentat auf die koloniale Zivilisation gelang nicht (…). So blieb es bei einer erbärmlichen Farce! Ihr vorläufiger Abschluss, nämlich der Abfall des arabischen Kalifats, also das genaue Gegenteil von dem, was man mit so viel fanatischer Hetze, unmoralischer Propaganda und Kräftevergeudung angestrebt hatte, wirkt wahrhaftig fast tragikomisch! Die Sucht, den »Heiligen Krieg« zu »entfesseln«, beruhte zunächst auf lächerlichen Illusionen. Es scheint, dass in Deutschland, dem Lande der Wissenschaft, das doch so viele hervorragende Forschungsreisende geliefert hat, die politische Verblendung und Illusionenkrankheit auch die Männer ergriffen hat, die nach ihrer genauen Kenntnis der Länder des Islam von vornherein laut ihre Stimme gegen diese gewaltige Dummheit hätten erheben müssen. Es scheint überhaupt, dass alle gründliche Wissenschaft, alle aufgespeicherten Studien, Deutschland soviel wie nichts genützt haben, so dass weltpolitisch Fehler über Fehler begangen worden sind.

»Vorbildliche Kolonien«

Man wird mir einwenden, dass Deutschland, auch wenn es des Erfolges nicht sicher war, doch dieses Mittel des »Heiligen Kriegs« wenigstens nicht unversucht lassen durfte, um seinen Gegnern durch Entfesselung kolonialer Aufstände Schwierigkeiten zu bereiten. Ich verweise demgegenüber auf die auch Deutschland genau bekannten tatsächlichen Zustände nicht nur im englischen, sondern auch im französischen und russischen islamitischen Kolonialgebiet, Zustände, die jede Verhetzung zum »Dschihad« von vornherein gänzlich, aber auch gänzlich aussichtslos machen.

Nehmen wir als Beispiel nur Ägypten, Französisch-Nordwestafrika und Russisch-Turkestan, ohne von der durch Jahrhunderte erprobten, meisterhaften englischen Kolonialverwaltung in Indien auch nur zu reden. Wer je Ägypten sah, wo die moderne großzügige und liberale englische Regierung die Anbaufläche des Landes durch technische Anlagen, Amelioration (Verbesserungen in der Landwirtschaft; jW) und geschickte Ausnützung aller Möglichkeiten unter Aufwand von Hunderten Millionen von Pfund nahezu verdoppelt, einer armen Bevölkerung durch lukrative Bodenproduktion Gelegenheit zum Verdienst, ja Reichtum verschafft und gegenüber dem früheren Zustand türkischer Misswirtschaft, Aussaugung und Despotie geradezu paradiesische Verhältnisse geschaffen hat, musste von vornherein über alle Illusionen Deutschlands und der Türkei, diese glücklich lebende Bevölkerung gegen ihre Herren aufstacheln zu können, den Kopf schütteln.

 

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