Welche Aussenpolitik würde Hillary Clinton als US-Präsidentin verfolgen? Antworten liefert ein Strategiepapier eines Thinktanks. Experte Günter Meyer hat es analysiert.

Der Thinktank Center for a New American Security (CNAS) erarbeitete ein Strategiepapier zur Stärkung der amerikanischen Macht in der Welt. Wer steckt hinter dem CNAS? Und welche Interessen verfolgt er?
Diese «Denkfabrik» ist politisch äusserst einflussreich. Sie steht der Demokratischen Partei nahe, arbeitet aber auch mit Republikanern zusammen. Das CNAS hat sich in der Vergangenheit vor allem für eine effizientere militärische Interventionspolitik und eine Stärkung der Rüstungsindustrie sowie gegen eine Kürzung des Verteidigungsbudgets ausgesprochen. Deshalb ist nicht überraschend, dass die Rüstungsindustrie zu den Hauptgeldgebern der Denkfabrik gehört. Dies ist ein Musterbeispiel für die Verknüpfung des militärisch-industriellen Komplexes mit den regierenden Politikern.

In einer Clinton-Administration könnte sie Verteidigungsministerin werden: Michele Flournoy, Chefin des Thinktanks Center for a New American Security.

Geleitet wird der Thinktank von Michele Flournoy, einer ehemaligen Staatssekretärin für Verteidigung. Sie hat nicht nur eng mit US-Präsident Barack Obama zusammengearbeitet, sondern gilt auch als aussichtsreichste Kandidatin für das Amt des Verteidigungsministers, falls Hillary Clinton zur Präsidentin gewählt wird. Neben Flournoy gehören hochrangige und teilweise neokonservative Verteidigungs- und Sicherheitsexperten zu den Autoren des Strategiepapiers.

Beim Wechsel einer US-Administration bringen sich verschiedenste Thinktanks mit ihren Vorschlägen in Position. Warum soll das Papier des CNAS eine herausragende Bedeutung für Hillary Clinton haben?
Das Konzept trägt den programmatischen Titel: «Stärkung der amerikanischen Macht. Strategien zur Ausweitung des US-Engagements in einer hart umkämpften Weltordnung». Mit dieser Zielsetzung ist es Clinton bereits gelungen, zahlreiche Neokonservative aus dem Lager der Republikaner auf ihre Seite zu ziehen. Abgesehen von den engen persönlichen Beziehungen zwischen der Präsidentschaftskandidatin und den Autoren, setzt das Papier die Politik des militärischen Interventionismus fort, die Clinton bisher vertreten hat.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Clinton hat 2003 die völkerrechtswidrige Invasion im Irak zum Sturz von Saddam Hussein und zur Sicherung des dortigen Erdöls für US-Konzerne nachdrücklich befürwortet. Ergebnis der militärischen Intervention: mehr als 100’000 Tote, ein im Bürgerkrieg versinkendes Land und die Entstehung des IS. Als Aussenministerin gab Clinton den Ausschlag dafür, dass Obama dem Angriff auf Libyen zugestimmt hat, um auch dort einen Regimewechsel gewaltsam durchzusetzen. Das Resultat ist ein gescheiterter Staat ohne baldige Aussicht auf eine politische Stabilisierung. Ehe Clinton 2012 aus ihrem Amt ausschied, heizte sie den Aufstand gegen Bashar al-Assad in Syrien durch verdeckte Aktionen gegen das Regime an.

«Die USA sollen mehr Luftangriffe durchführen, um wichtige IS-Ziele zu vernichten.»

In ihren bei Wikileaks veröffentlichten E-Mails erklärt sie den Sturz von Assad als beste Möglichkeit, um Israel zu helfen. Dabei wurde sogar die Ausbreitung der jihadistischen Extremisten des späteren Islamischen Staates (IS) begrüsst, wie die auf gerichtliche Anordnung veröffentlichten Dokumente des militärischen Geheimdienstes DIA belegen.

Diese Interventionspolitik hat vor allem neue Probleme verursacht. Würde eine Präsidentin Clinton trotzdem daran festhalten?
Aus dem Scheitern dieser militärischen Interventionen, um den Sturz missliebiger Herrscher zu erzwingen, hat Clinton offenbar die Konsequenz gezogen, dass in Zukunft die Überlegenheit der US-Streitkräfte noch wesentlich massiver zum Einsatz kommen muss, um aussenpolitische Ziele zu erreichen. Das belegen viele ihrer Äusserungen im Wahlkampf, und genau diese Linie vertritt auch das Strategiepapier.

Das CNAS-Papier bezeichnet die USA als wichtigsten Sicherheitsgaranten in Europa, Südostasien und im Nahen Osten. Und es betont die Notwendigkeit von militärischer Aufrüstung und Abschreckung. Welche sicherheitspolitischen Folgen hätte die Umsetzung dieses Strategiepapiers?
Die USA werden hier als Verteidiger der liberalen Weltordnung dargestellt. Ein stärkeres und einflussreicheres Amerika wird innenpolitisch als Voraussetzung dafür erklärt, dass es dem Durchschnittsamerikaner besser geht. Aussenpolitisch können dagegen die Konflikte mit aufsteigenden und etablierten Mächten nur durch die Stärkung der militärischen Abschreckung sowie die Erweiterung regionaler Bündnisse und Sicherheitspartnerschaften eingedämmt werden.

Politik der Aufrüstung und Abschreckung gegenüber Russland: Nato-Grossübung «Anaconda» im vergangenen Juni in Polen. Foto: Keystone

Das bedeutet nicht nur ein höheres Verteidigungsbudget der USA. Es schliesst auch die Forderung nach wesentlich höheren Verteidigungsausgaben der Verbündeten mit ein. Stillschweigend verbirgt sich dahinter die Annahme, dass die leistungsfähigsten Waffensysteme vorwiegend bei der US-Rüstungsindustrie gekauft werden müssen. Erwähnt wird auch nicht, dass eine solche Politik zwangsläufig zu steigenden Spannungen, gegenseitiger Bedrohung und einem beispiellosen nicht nur konventionellen, sondern auch nuklearen Rüstungswettlauf führen wird: Gigantische Ressourcen werden für die Aufrüstung verschleudert, die für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder dringend benötigt werden.

In Osteuropa droht eine verschärfte Konfrontation mit Russland. Das Baltikum oder auch Polen sollen mit substanzieller Unterstützung der Nato weiter aufgerüstet werden. Die Ukraine soll militärisch unterstützt und stärker in den Westen eingebunden werden. Das wird sich Russland kaum bieten lassen. Welche Szenarien sehen Sie für die Grenzstaaten der früheren Sowjetunion?
Dem Strategiepapier zufolge wird Europa vor allem durch die Aggression Russlands und dessen wachsende Bereitschaft bedroht, Invasionen in den Nachbarstaaten durchzuführen. Auch diese Länder sollen nicht nur militärisch aufrüsten. Damit verbunden sind Sicherheitsgarantien der Nato, die dort noch mehr Truppen stationieren und Manöver durchführen soll. Russland wird mit ähnlichen militärischen Aktionen reagieren. Dadurch wachsen die Spannungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung in den baltischen Staaten und den russischen Minderheiten. Lokale Konflikte, bei denen Russland von der einen und die Nato von der anderen Seite zu Hilfe gerufen wird, können hier zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der westlichen Allianz und der Russischen Föderation führen.

«Trotz Nuklearvertrag kann der Iran keinerlei Entgegenkommen der USA erwarten.»

Würde eine US-Politik der militärischen Aufrüstung und Abschreckung auch von den Europäern mitgetragen werden?
Die Forderung nach höheren Rüstungsausgaben wird von US-Seite schon länger an die europäischen Staaten, gerade auch an die deutsche Regierung gerichtet. Abgesehen von Grossbritannien und Frankreich, die sich ohnehin schon militärisch sehr stark an der Seite der USA engagieren, stiess die massive Aufrüstung und eine Ausweitung der militärischen Einsätze bei den meisten europäischen Regierungen auf erheblichen Widerstand. Sie werden aber kaum vermeiden können, nach einer Erhöhung des politischen Drucks aus Washington zumindest teilweise den amerikanischen Forderungen nachzukommen.

Explosiv ist die Lage vor allem im Nahen Osten, wo Russland mit militärischer Härte Diktator Assad an der Macht zu halten versucht. Falls die USA Assad absetzen wollen, oppositionelle Kräfte unterstützen und allenfalls einen verdeckten Krieg führen möchten, droht eine direkte Konfrontation mit Russland. Würde eine Präsidentin Clinton dies riskieren?
Clinton hat immer wieder betont, dass sie eine härtere Gangart gegen Assad einschlagen will. Während Obama gerade die Einrichtung einer Flugverbotszone in Syrien entschieden abgelehnt hat, wird von Clinton nach wie vor die Einrichtung einer Flugverbotszone gefordert. Dazu ist die Zerstörung der syrischen Luftwaffenbasen durch Marschflugkörper geplant. Nachdem Russland inzwischen zahlreiche Abwehrsysteme gegen ballistische Raketen in Syrien installiert hat, würde diese militärische Intervention der USA unvermeidlich zu einer direkten militärischen Konfrontation der beiden Nuklearmächte führen. Ob Clinton dies tatsächlich in Kauf nehmen wird oder nur blufft, bleibt abzuwarten.

Härtere Gangart gegenüber dem syrischen Regime und damit verschärfte Spannungen mit Russland: Diktator Bashar al-Assad und Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen in Moskau. Foto: Reuters

Eine weitere Forderung des CNAS-Papiers bezieht sich auf die Priorität der Bewaffnung, Ausbildung und den Schutz der moderaten Oppositionellen. Dass dieser Ansatz unter Obama bereits kläglich gescheitert ist und im Endeffekt nur die jihadistischen Extremisten gestärkt hat, wird hier ignoriert.

Die Vernichtung des IS ist ein vorrangiges Ziel der US-Politik. Wie soll das erreicht werden?
Der Kampf der Anti-IS-Allianz soll auf globaler Ebene durch militärische, geheimdienstliche, juristische, finanzielle und diplomatische Bemühungen wesentlich verstärkt werden. Die USA sollen deshalb mehr Luftangriffe durchführen und die Zahl ihrer Spezialkräfte erhöhen, um wichtige IS-Ziele zu vernichten. Die mit al-Qaida verbündete Nusra-Front/Eroberungsfront wird hier nicht einmal erwähnt. Berücksichtigt werden ebenso wenig die islamistischen Milizen, die von Saudiarabien, Katar und der Türkei unterstützt werden. Sie unterscheiden sich in ihren ideologischen Zielsetzungen und der Brutalität ihres Vorgehens kaum vom IS, werden aber von den USA mit Rücksicht auf ihre Verbündeten als gemässigte Rebellen deklariert, denen bei ihrem Kampf gegen Assad geholfen werden soll.

Welche Folgen hat das CNAS-Papier für die ohnehin bestehenden Spannungen zwischen den Regionalmächten Saudiarabien und Iran?
«Wenn ich Präsidentin bin, werden wir den Iran angreifen», der eine «existenzielle Bedrohung für Israel» darstellt. In Übereinstimmung mit dieser Wahlkampfaussage von Clinton stellt das Strategiepapier einen umfangreichen Forderungskatalog von politischen, wirtschaftlichen und militärischen Massnahmen gegen den Iran auf, der «die Region durch Unterstützung von Terrorgruppen destabilisiert». Trotz des Nuklearvertrags darf der Iran keinerlei Entgegenkommen von den USA erwarten. Stattdessen wird mit Sanktionen und militärischer Abschreckung gedroht.

«Die Überlegenheit der US-Streitkräfte soll wesentlich massiver zum Einsatz kommen.»

Bemerkenswert ist die Forderung, dass den verbündeten Golfstaaten der «Zugang zu US-Verteidigungsartikeln und -dienstleistungen» nahegelegt wird, um Teheran abzuschrecken. Hier winken riesige Rüstungsaufträge für die US-Industrie. Im Iran werden diese Bedrohungskulisse und die gescheiterten Hoffnungen der Bevölkerung auf die Segnungen des Nuklearvertrags zur Stärkung der konservativen Hardliner und zum Ende der Reformbewegung führen.

Ein weiterer Brennpunkt der internationalen Politik ist Südostasien, wo China seine Interessen im Südchinesischen Meer durchzusetzen versucht. Welche Politik dürften die Amerikaner gegenüber China verfolgen? Gibt es Ansätze einer einvernehmlichen Sicherheitsarchitektur in Südostasien?
Angesichts einer gigantischen Verschuldung der USA gegenüber China, sieht das Strategiepapier eine zweigleisige Vorgehensweise vor. Einerseits befürwortet es im wirtschaftlichen Interesse der USA «die Förderung eines friedlichen Aufstiegs von China, das in die liberale Weltordnung integriert ist». Andererseits werden gegenüber China, das den grössten Teil des Südchinesischen Meeres beansprucht und dort Korallenriffe zu Militärbasen ausbaut, eine verstärkte militärische Aufrüstung und Abschreckung sowie wirtschaftliche Sanktionen gefordert. Zu diesem Zweck sollen neue Verteidigungsabkommen mit den Philippinen und Vietnam abgeschlossen werden.

Ein abschliessendes Fazit: Wie wird sich die Weltpolitik verändern, wenn Hillary Clinton nach ihrem wahrscheinlichen Wahlsieg dieses Strategiepapier umsetzt?
Die weltpolitischen Spannungen werden sich in einem Masse verschärfen, das alles in den Schatten stellt, was wir seit dem Ende des Kalten Kriegs erlebt haben. Diese Richtschnur für die US-Aussenpolitik, die vor allem auf die militärische Überlegenheit der USA setzt und ein beispielloses Wettrüsten nach sich ziehen wird, führt an die Schwelle des dritten Weltkriegs beziehungsweise des ersten Nuklearkriegs. Hoffnungen auf ein Ende des Mordens in Syrien und eine Beilegung der dortigen Stellvertreterkriege sind ebenso vergeblich wie die Erwartung einer friedlichen Entwicklung in der Golfregion.

Das sind sehr düstere Aussichten.
Es bleibt eine kleine Hoffnung: dass der Widerstand vom linken Flügel der Demokratischen Partei gegen den militärischen Interventionismus den harten aussenpolitischen Kurs der wahrscheinlichen Präsidentin Hillary Clinton zumindest teilweise abschwächt.

«Eine Flugverbotszone in Syrien könnte Leben retten und helfen, den Konflikt zu beenden»: Hillary Clinton bei der dritten TV-Debatte gegen Donald Trump. Foto: Keystone (Tages-Anzeiger)

 

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