Armenien Beträchtliche Verluste an Souveränität und Territorium sind der Preis für den Krieg um Bergkarabach

Jens Malling | Ausgabe 48/2020, 29.11.2020

Erschütternde Angaben – 2001, 2000, 2002, 2000, 2002, die Geburtsjahre neben den Namen der armenischen Gefallenen. Sie zeigen, diese Wehrpflichtigen kamen nie dazu, ihren 20. Geburtstag zu feiern. Während weltweit der Streit über den Ausgang der US-Wahlen und die Corona-Pandemie die Gemüter bewegt, findet kaum Beachtung, dass innerhalb weniger Wochen 2.425 junge Armenier im Kampf gegen die Übermacht Aserbaidschans getötet wurden, als sie die Region Bergkarabach zu halten suchten.

Sie kamen zwischen dem 27. September und dem 10. November bei Schlachten ums Leben, die wegen des Einsatzes von Kamikaze-Drohnen und Präzisionsraketen als Hightech-Massaker zutreffend beschrieben sind. Sie fielen dem extremen Nationalismus des aserbaidschanischen Staatschefs Ilham Alijew ebenso zum Opfer wie den Waffenhändlern aus Russland, der Türkei, Israel und Serbien, die seit Jahren Alijews Armee versorgt haben. Geopfert wurden diese Soldaten aber auch von der politischen Elite Armeniens, die nach den Siegen und der Besetzung aserbaidschanischen Terrains im vorherigen Krieg (1988 – 1994) 25 Jahre lang keinen verlässlichen Frieden auszuhandeln vermochte.

Aserbaidschan hält seine Verluste bislang geheim. Anzunehmen ist, dass sie ebenfalls hoch sind. Man weiß von etwa 150 zivilen Opfern, zu denen es u. a. kam, als armenische Raketen die Stadt Gandscha in aserbaidschanischem Kernland trafen. Nach Angaben aus Moskau muss insgesamt mit mehr als 4.000 Toten – Zivilisten wie Militärs – gerechnet werden. Noch ist das keine verbindliche Zahl.

Sicher ist hingegen: Als Russlands Präsident Putin, der armenische Premier Nikol Paschinjan und Alijew am 9. November die Waffenstillstandsagenda unterzeichneten, stand Armenien an allen Fronten vor dem Zusammenbruch, was zu erheblichen Konzessionen zwang. Jerewan verlor die Kontrolle über den gesamten Süden von Bergkarabach, einschließlich der als heiliger Ort geltenden Stadt Schuschi (der Freitag 46/2020). Geräumt werden müssen die sieben Regionen, die während des vorangegangenen Krieges besetzt wurden und als Pufferzone rings um Bergkarabach dienten. Darüber hinaus hat sich Aserbaidschan wieder den Zugang zu einem Korridor gesichert, der zu seiner von Iran und Armenien umschlossenen Exklave Nachitschewan führt. Diese Klausel aus dem Abkommen über die Feuerpause kommt auch der Türkei gelegen. Die Trasse sichert bessere Handelswege, um Aserbaidschan und die zentralasiatischen Staaten auf der östlichen Seite des Kaspischen Meeres zu erreichen, auch wenn durch den Korridor künftig russische Sicherheitskräfte patrouillieren.

Zugleich hat die Regierung in Jerewan ein ernstes Flüchtlingsproblem. Die überwiegende Mehrheit der 150.000 in Bergkarabach lebenden ethnischen Armenier ist zunächst kopfüber ins Mutterland geflohen, um Repressalien vorrückender Aserbaidschaner zu entgehen. Brennende, von den Vertriebenen selbst angesteckte Häuser säumen den Weg.

Sicherheitspolitisch muss sich Armenien des Dilemmas bewusst werden, durch den Aderlass in Bergkarabach das eigene Territorium nicht mehr ausreichend verteidigen zu können. Mehr denn je wird man auf die Gnade und den Schutz Russlands angewiesen sein, um – eingeklemmt zwischen zwei Erzfeinden, der Türkei im Westen und Aserbaidschan im Osten – nicht über Gebühr politisch erpressbar zu sein. Dabei zeugt die Entsendung des Friedenskorps (etwa 2.000 Mann) vom größten Militäreinsatz Russlands im Kaukasus seit 2008 – seit es zum Sommerkrieg gegen Georgien kam. Dies kommt einem zuvor schon erheblichen regionalen Einfluss zugute.

Peinigung und Pogrom

Wegen der Kriegsfolgen steht Regierungschef Paschinjan schwer unter Druck. Hardliner und Nationalisten beschuldigen ihn des Verrats, er habe sich der aserbaidschanischen Übermacht gebeugt, statt dagegen anzukämpfen. Der Widerstand gegen seine Regierung hat ein Ausmaß angenommen, dass deren jäher Sturz nicht mehr auszuschließen ist. Am Tag des Waffenstillstands stürmte eine wütende Menge das Parlament in Jerewan und misshandelte dessen Präsidenten Ararat Mirsojan, der anschließend ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Am 14. November wurde Artur Wanezjan, einst Chef des nationalen Sicherheitsdienstes, für kurze Zeit verhaftet, weil der Verdacht bestand, er plane Paschinjan zu ermorden und die Macht zu übernehmen.

Für viele Armenier gehört Bergkarabach seit jeher zur nationalen und kulturellen Identität. In der Region befinden sich mehrere christliche Denkmäler, mittelalterliche Klöster und Kirchen. Die jetzigen Gebietsverluste werden als Fortschreibung einer zu oft tragischen Geschichte verstanden, die das armenische Volk immer wieder Peinigung und Pogromen ausgesetzt hat. Vor gut 100 Jahren fielen in der heutigen Türkei 1,5 Millionen Menschen infernalischen Massakern zum Opfer, was in Ankara wie Baku nach wie vor nicht als Völkermord anerkannt wird.

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-land-am-abgrund

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